Tuesday, April 1, 2014

Leseknospen

Zuerst las ich heute die Nachricht, dass der Historiker Jaques Le Goff gestorben ist. Von ihm lernte ich als Student was  Mentalitäten sind und dass sie "die Weltwahrnehmung und die Urteilskraft regieren und es nahezu unmöglich machen, kühne historische Linien aufzuzeigen und zur Grundlage heutiger Ansprüche oder Forderungen zu machen":

 Er schützte uns vor dem Hochmut, dank technischer Innovationen und hochmögender Wissenschaft ein besseres Urteilsvermögen zu pflegen als die Menschen des Mittelalters, und bewahrte jene andererseits vor der Karikatur, irgendwie weiser und wahrhaftiger oder aber unterbelichtet und böse gewesen zu sein.

 Danach stolperte ich über diesen schönen Kommentar mit dem Titel "Frühlingswirren". Jörg Kaube nähert sich darin auf Umwegen dem Frühlingsanfang, den es ohne diese Umwege so gar nicht gäbe und der dennoch völlig zeitgemäß ist. (Und wer als Kommentar schreibt, dass ein ausgefallener Winter noch kein Anthropozän ausmacht, der wird sofort gelöscht. Versprochen!)


 hier gehts zum Text:


Winter ade? Frühlingswirren

 ·  Enden kann nur, was dagewesen ist. Deshalb lässt uns eine Frage schier verzweifeln: Wer weiß, in welcher Jahreszeit wir uns befinden?
 

Der Frühlingsanfang, der vor gut zehn Tagen war, ist ein astronomisches Datum und geht uns insofern nichts an. Wir leben schließlich nicht im Universum, sondern im Taunus. Die Zeitumstellung, die kurz darauf erfolgte, als politisch veranlasste deutsche Jahreszeitmarkierung betrifft uns schon mehr. Aber die heißt „Sommerzeit“ und geht insofern den Frühling nichts an.
Der sogenannte meteorologische Frühlingsanfang war schon am 1.März und dient den Vereinten Nationen, die ihn festgelegt haben, zu Zwecken des weltweiten Klimavergleichs. Ist uns also auch zu abstrakt.

Anderthalb Stunden Winter

Schließlich aber gibt es noch den „phänologischen“ Frühlingsanfang, der mehr an die Selbstdatierung der Natur anschließt, vom Blühbeginn der Schneeglöckchen (Vorfrühling) bis zu dem der Apfelbäume (Vollfrühling), die für die Oberrheinische Tiefebene um den 20.April erwartet wird. Haben wir im Taunus also noch ein wenig Zeit. Hätten. Denn tatsächlich muss etwas ja, um anfangen zu können, vorher erst einmal nicht dagewesen sein.
Klassisch ist hier die Unterscheidung von Frühling und Winter. Frühlingsanfang gleich Winterende. Kulturgeschichtlich eine wichtige Zäsur, derenthalben Fastnacht ausbricht, das Julfest und die Wintersonnenwende begangen werden, solche noch viel frühere Feiern des herbeigesehnten Winterendes.
© dpa Vergrößern Diese Blüte hat der Winter doch noch erwischt: Die Blutpflaume in Mecklenburg-Vorpommern ist bei minus fünf Grad mit Raureif überzogen.
 
Aber kann uns jemand mal sagen, wann in diesem Jahr, in der Oberrheinischen Tiefebene oder auch im Taunus, Winterende war? Denn um enden zu können, muss etwas doch erst einmal dagewesen sein. Wie viel Winter war denn heuer? Wenn man ihn am Schnee erkennen will, vielleicht gefühlte anderthalb Stunden? „Zahl der Eistage: 3“, meldet die Wetterzentrale Bad Schussenried als zeithistorischen Tiefststand, und Bad Schussenried liegt, oberrheinisch betrachtet, ähnlich wie der Taunus: praktisch in Sibirien.
Puren Hohn empfinden unsere Kinder darum, wenn ihnen aus den Liederbüchern „Winter ade“ entgegenkommt, schiere Verzweiflung, wenn man ihnen die Wetterlage in Lönneberga, Saltkrokan und Bullerbü vorliest. Ein Jahr ohne Winter? Anthropozän, ist das dein Ernst? „Scheiden tut weh“, die Ironie ist schal geworden.

1 comment:

RainerS said...

Lieber Herr Krauss,

als Beute-Bayer FREUE ich mich über ausgefallene Winter. Als Strom- und Wärmekunde sowieso. Alle vier/fünf Jahre kann ich meinen Geburtstag im Biergarten feiern, wie kürzlich. Whodunit? WtF.
Falls ich Hundert werde, unterwerfe ich dieses Phänomen mal einer statistischen Analyse. Oder auch nicht. Cheers.